Jenseits der Schwelle
Vor langer Zeit, als die Menschen noch tief in Kontakt mit ihrer Seele und der Weltenseele waren, lebte in einem Land weit jenseits des großen Wassers eine alte Frau. Den größten Teil ihres Lebens hatte sie damit zugebracht, ihre großen Heilkünste Menschen, Tieren und Pflanzen zur Verfügung zu stellen und ihr großes Wissen an ihre Enkeltochter, die ihre Nachfolge antreten sollte, weiter zu geben. Sie spürte, dass sich ihr irdisches Leben langsam dem Ende näherte und ihre Seele war bereit, sich auf die große Reise zu machen. Die alte Frau wusste, dass sie vorher noch eine letzte, wichtige Aufgabe zu erfüllen hatte – ihrer Nachfolgerin ein letztes besonderes Geschenk zu machen, das diese wiederum in ihrer Funktion als Heilerin vielfach an andere Menschen weitergeben würde.
Als die Zeit dafür gekommen war, rief sie ihre Enkelin zu sich. Die beiden Frauen betraten gemeinsam den Heilraum und setzten sich einander gegenüber. Lange Zeit teilten sie die vertraute Stille, in der sich ihre feinen Seelen mit der großen Weltenseele verbanden. Sie saßen im Zentrum eines Labyrinths, das sie schon so oft für ihre Heilzeremonien genutzt hatten – gehüllt in ihre rituellen Kleider, die langen Haare geschmückt mit Blumen.
In diesem Heiligen Raum spürte die alte Frau einen tiefen Schmerz im Herzen ihrer Enkelin. Sie stimmte einen schamanischen Gesang an, der immer stärker wurde und die junge Frau so tief berührte, dass sich ihr Schmerz in heftigem Weinen Bahn brach. Sie wurde eins mit diesem Schmerz, verschmolz mit ihm, war der Schmerz. Die Großmutter sang immer weiter, tief verbunden in Respekt und großem Mitgefühl mit der trauernden Seele ihrer Enkelin. Als ihre Töne zu einem Ende kamen, stand die alte Frau langsam auf, ging zu ihrer Enkeltochter, legte ihr die alten erfahrenen und wissenden Hände auf den Kopf und schloss die Augen. Die junge Frau saß reglos, der Tränenstrom kam langsam zu einem Ende. Nach einer Weile begann die alte Frau zu sprechen:
„Mein liebes Kind, dein Schmerz ist groß und tief und unerträglich. Doch was du noch nicht weißt, ist, dass dieser Schmerz dich heilen wird. Es gibt so viele Formen von Heilung – Liebe, Mitgefühl, Geborgenheit, das Schnurren einer Katze, ein Schmetterling auf einer Blüte, der Gesang eines Vogels, eine Hand, die dir gereicht wird, wenn du denkst, es geht nicht mehr weiter. So ist auch der Schmerz ein großer Heiler, denn er zeigt uns, wie sehr wir fähig sind zu lieben. Je mehr du Liebe bist und gibst, umso tiefer wird der Schmerz spürbar werden, den du in dir trägst so wie alle anderen Menschen auch. Indem du dich diesem Schmerz geöffnet hast, gewagt hast, Schmerz zu sein, hast du eine Schwelle überschritten. Deine Bereitschaft, dem Schmerz nicht auszuweichen, sondern immer wieder durch ihn hindurch zu gehen, ist deine große Initiation, die dir das Herz einer Heilerin schenkt. Nun erst bist du fähig, die Seelen der Menschen wirklich zu sehen und sie auf ihrem Heilungsweg zu begleiten. Dies war deine letzte große Prüfung, deren Bestehen dich als würdig erweist, meine Nachfolge anzutreten. Nun kann ich mich zurückziehen, denn ich weiß, dass du nun bereit bist.“
Die junge Heilerin stand auf, sah ihrer Großmutter sehr lange in die weisen Augen, und beide wussten, dass sie für immer in Liebe miteinander verbunden sein würden. Sie dankten einander, umarmten sich, und die alte Frau verließ langsamen Schrittes das Labyrinth, während ihre Nachfolgerin ihr nachsah, eine tiefe Gewissheit in ihrem Herzen spürend, dass ihre Großmutter immer bei ihr sein würde, wenn sie deren Rat und Liebe benötigte.
Als sie ihre Großmutter im Licht der untergehenden Sonne davon gehen sah, spürte sie, wie der Schmerz in ihrem Herzen sich in grenzenlose, allumfassende Liebe wandelte. Dann verließ auch sie die Mitte des Heiligen Raumes und ging zu einem Felsen in der Nähe, in dessen Innerem sich eine Grotte befand. Hier sprudelte unversiegbar die Quelle des Lichts.
Die junge Frau legte ihre Kleider ab, badete lange in dem kristallklaren Wasser und entstieg dem Becken als weise Heilerin, für die nun neue Kleider bereit lagen. Achtsam und mit großer Dankbarkeit kleidete sie sich an und trat ihren Weg an, das Werk ihrer Großmutter weiter zu führen und deren kostbares letztes Geschenk den Menschen zu bringen.